Für Sie gelesen:

Die Welt der Frauen und Mädchen mit AD(H)S.

Warum sie so besonders sind und was sie stark macht.

 

Von Christine Carl, Ismene Ditrich, Christa Koentges, Swantje Matthies

(Beltz-Verlag 2022)

 

Ich entdecke dieses Buch. Und wieder einmal höre und lese ich, dass AD(H)S nicht nur eine Konzentrationsschwäche ist. Vielmehr wird mir dadurch einmal mehr klar, dass es weitere Bereiche umfasst, ich bin dennoch skeptisch und weiß nicht genau, ob es sich lohnt, weiterzulesen. Doch dann: Noch nie wurde ich so positiv von einem Buch überrascht wie von diesem hier. Den Autorinnen gelingt es von Anfang an ohne katastrophisierende Ausschmückungen oder verkrampfte Suche nach dem Positiven ein geschlechtsspezifisch-sensibles und achtsames Bild dieses psychischen Syndroms zu malen. Ein Bild, das mir in der bisherigen Literatur und den Diskussionen immer gefehlt hat. Mit einfühlsamer Wertschätzung und Achtung vor den betroffenen Mädchen und Frauen vermitteln sie Symptome und Besonderheiten von AD(H)S bei weiblichen Personen. Auf das AD(H)S-Gehirn, dessen Leistungen sowieso Schwankungen unterliegt und irritierbarer scheint, wirken zyklusbedingte Hormonschwankungen noch zusätzlich ein (S. 49). Ein Aha-Effekt für mich. Eigentlich so logisch… Doch das Buch ist noch so viel mehr als nur dieses eine Aha.

Die Autorinnen gehen auf typisches „Mädchenverhalten“ ein, Rollenerwartungen und deren Verhaltensableitungen. Mädchen passen sich z.B. besser an als Burschen – sie kompensieren in einigen Bereichen von AD(H)S anders. Da, wo Burschen vielleicht explodieren, kann es bei Mädchen zum Implodieren kommen. Die Überleitung zu komorbiden psychischen Veränderungen bzw. Störungen, wie etwa Ängsten oder Depressionen liegt nahe. Doch wo andere Literatur knallhart serviert, wie bedauernswert tragisch die Diagnose AD(H)S sein kann – nicht nur weil Komorbiditäten vorprogrammiert sind vor denen man davonlaufen möchte - liest man im Werk dieser Autorinnen vom Erleben der betroffenen Mädchen und Frauen selbst, von verändertem negativem Selbstkonzept und – ja – von Ressourcen. Das negative Selbstkonzept wird als „zweite Krankheit“ gesehen und speist sich nach den Ausführungen der Autorinnen aus den Erfahrungen, die Mädchen und Frauen durch ihre Umwelt machen (vgl. S. 107 ff.). Eine herrlich begreifliche Erklärung darüber, wie es ist, nicht den Erwartungen zu entsprechen, negative Bewertungen von außen zu bekommen, Scham, Selbststigmatisierung und psychische Belastungen zu erleben. Die Versuche, sich anzupassen scheitern aufgrund der nicht zu kontrollierenden biologischen Besonderheiten (S. 111). Durch die Anstrengungen, passend für die Umwelt zu sein, geraten viele Mädchen und Frauen „an den Rand eines Burn-outs oder werden depressiv“ (ebd.). Da freut mich das Kapitel über Ressourcen umso mehr. Ich spoilere: Kreativität, Energie oder Fantasie… mehr verrate ich nicht.

Die Ausführungen der Autorinnen über Selbsthilfe beinhalten „lifehacks“ zu verschiedenen Bereichen für Betroffene, speziell für junge Frauen kommt mir das sehr cool vor und ich muss freudig lächeln, weil es schön gestaltet und einfach leicht verständlich ist. Das Kapitel mit den Therapieformen spiegelt hier nochmal die empathische Haltung der Autorinnen wieder und rundet mit den Ausführungen zu Leitlinien in der Behandlung von AD(H)S und Therapiekonzepten in Deutschland das Buch ab. In Österreich ticken die Uhren hier leider oft noch anders: Wo in Deutschland oder Italien auf das Vorherrschen einer AD(H)S oder anderer psychischer Beeinträchtigungen in Schule und Unterricht Rücksicht genommen werden muss, hinkt Österreich hier noch hinterher. Die biologische Diversität der AD(H)S (oder anderer psychischer Abweichungen) muss hierzulande noch nicht im Bildungsplan berücksichtigt werden und führt leider nur zu oft zu entmutigten SchülerInnen, frustrierten Lehrpersonen und hilflosen Eltern. Aber das ist ein anderes Thema…

Ich kann dieses Buch uneingeschränkt weiterempfehlen, es ist verständlich geschrieben, liest sich leicht. Auch möchte ich mich bei den Autorinnen herzlich bedanken für die aufrichtig wertschätzende Haltung, die sich wie ein roter Faden durch sämtliche Kapitel zieht.

 

 

Mag.a Sabine Senn, BA - Dezember 2022